NÄCHTLICH GESCHÜRZT
(Für Hannah und Hermann Lenz)

Nächtlich geschürzt
die Lippen der Blumen,
gekreuzt und verschränkt
die Schäfte der Fichten,
ergraut das Moos, erschüttert der Stein,
erwacht zum unendlichen Fluge
die Dohlen über dem Gletscher:
dies ist die Gegend, wo
rasten, die wir ereilt:
sie werden die Stunde nicht nennen,
die Flocken nicht zählen,
den Wassern nicht folgen ans Wehr.
Sie stehen getrennt in der Welt,
ein jeglicher bei seiner Nacht,
ein jeglicher bei seinem Tode,
unwirsch, barhaupt, bereift
von Nahem und Fernem.
Sie tragen die Schuld ab, die ihren Ursprung beseelte,
sie tragen sie ab an ein Wort,
das zu Unrecht besteht, wie der Sommer.
Ein Wort –du weißt:
eine Leiche.
Laß uns sie waschen,
laß uns sie kämmen,
laß uns ihr Aug
himmelwärts wenden.

(Paul Celan, 1952)

Paul Celan, Die Gedichte, Kommentierte Gesamtausgabe, S. 80
Hrsg.: Barbara Wiedemann,
Erste Auflage 2003
Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2003
(Von Schwelle zu Schwelle, Deutsche Verlags-Anstalt GmbH Stuttgart, 1952 und 1955)

Gedichtauswahl/Sprecher: Dr. Konstantin Bendix
Musik: Récard

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    Poetry, Gedichte, Surrealismus, Vertonungen, Modern Classical, Paul Celan
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