Nach eingehender Prüfung komme ich zu dem Schluss, dass dieses Klavier nicht stimmbar ist. Worum handelt es sich? Um ein Klavier der Marke „Böhme & Sohn“ aus Gera, gebaut circa 1920, also gut 100 Jahre alt. Aha, werden Sie jetzt denken, ein so altes Klavier kann man nicht mehr stimmen. Das trifft nicht zu. Der Markt ist übersät mit Klavieren, die vor 100 und mehr Jahren gebaut worden sind, die immer noch gespielt werden und gestimmt werden können. Was ist bei diesem Piano anders?

Der Zustand ist extrem schlecht: Zahlreiche Saiten sind gerissen. Stimmnägel sind zum Teil herausgedreht und die Saiten darauf schlecht aufgebracht. Die Stimmung ist ohne jegliche Struktur. Das Risiko, alleine beim Testen der Stimmbarkeit Saiten abzureißen, ist sehr hoch. Ein Vorstimmen im üblichen Sinn ist so gar nicht möglich. So ein Instrument kann man nicht einfach nur stimmen. Man muss es erst einmal reparieren und zwar in einer Werkstatt.

Lohnt sich die Reparatur eines alten Pianos? Können die neuen Instrumente nicht viel mehr als die Alten? Nein, das Leistungsspektrum ist seit gut 150 Jahren gleich geblieben. Das kann man auch folgendermaßen formulieren: Der Innovationszyklus beträgt in der Klavierbranche aktuell 150 Jahre. Ist das gut oder schlecht?

Man könnte diese Tatsache so interpretieren, dass der technische Stand bereits vor 150 Jahren ausgereizt worden ist. Aber ist das überhaupt vorstellbar? Überlegen Sie einmal: In den vergangenen 150 Jahren hat sich die Welt dramatisch verändert! Damals baute man gerade die Eisenbahn, der Telegraf war noch ganz neu, noch kein Gedanke an ein Telefon, die Erfindung des Autos war noch weit entfernt - und wäre damals vermutlich eine ähnlich verrückte Phantasie gewesen wie noch vor wenigen Jahren das selbstfahrende Auto! Vor 150 Jahren war noch das Kerzenlicht üblich. Der Strom, die Glühbirne waren damals die lebensverändernden Neuigkeiten. Das war die Hochzeit von Siemens, von der die Firma genau genommen heute noch zehrt. Sicher hatte man damals den Flügel und sein Spielwerk längst zu einem Hochleistungsinstrument entwickelt, das große Hallen beschallen konnte und auch die heftigsten Tiraden der Pianisten heil überstand. Doch zum Beispiel das Spielwerk des Klaviers war immer noch den halben Tastenweg weniger leistungsfähig als die Flügelmechanik. Daher bemühten sich die Klavierbauer mit einem hohen Selbstanspruch, für das Klavier eine zum Flügel gleichwertige Repetitionsmechanik zu entwickeln. Dieser Meilenstein des Klavierbaus wurde nach mehreren vergeblichen Versuchen in Deutschland (Langer-Mechaniken, Sauter R2-Spielwerk) vor einigen Jahren auch erreicht. Allerdings war der Erfinder der Amerikaner Fandrich und fast unmittelbar nach der Erfindung verschwand der Meilenstein in der Schublade seiner Firma, um nicht das Geschäftsmodell des Flügels zu gefährden. Denn wenn das Klavier tatsächlich in der Leistung identisch zum Flügel wäre, würde sich niemand mehr einen Flügel kaufen, der für die Wohnung immer zu groß und zu laut ist.

Bleibt man in der analogen Welt so hätte es auch schon vor mehr als 100 Jahren am Piano-Pedal Optimierungsbedarf gegeben. Weder die Lösung im Flügel noch die Technik im Klavier ist optimal. Beide Varianten gemeinsam eröffnen neue Möglichkeiten, wie man bei Fazioli lesen kann. Der Optimierungsbedarf ist bis heute auf dem Stand vor 150 Jahren stehen geblieben, wie man bei fast allen Pianos an der Oberfläche des Pedale erkennen kann: Das rechte Tonhaltepedal ist aufgrund der intensiven Nutzung poliert, während das linke Leisepedal mangels Nutzung stumpf ist. Seit über 100 Jahren ist das eindeutig den Klavieren zu entnehmen. Trotzdem baut die Klavierindustrie bis heute diese Mangelversion unverändert ein. Ist das normal? Hat die Klavierindustrie längst den Kontakt zu den Klavierspielern verloren? Sind die Entwickler in anderen Branchen zu Hause?

Ähnlich geht es dem Moderator und Silent-Piano. Die übliche Lösung beim analogen Moderator, das Filztuch, das sich zwischen Hammer und Saite schiebt, verschleißt, beeinflusst den Anschlag negativ und klingt aus verschiedenen Gründen nicht wirklich gut. Anstelle die vielen Saiten im Klavier zu dämpfen, hätte man längst auf die Idee kommen können, in das Hausklavier, also das Gegenstück zum Flügel, der eine Konzerthalle mit Publikum beschallen soll, weniger Saiten einzubauen. Den nächsten Schritt, nämlich unter diese eine Saite einen Tonabnehmer zu installieren, sind in Deutschland Klavierbauer wie Ferdinand Manthey schon vor circa 50 Jahren übrigens in einem Duo-Corda-Piano (!) gegangen. Manthey verzichtete auf den Resonanzboden, um stattdessen Tonabnehmer anzubringen, und in den Unterrahmen Lautsprecher zu integrieren. Mit den Tonabnehmern kann man in einem Klavier ohne Resonanzboden - also ohne den analogen Akustik-Lautsprecher - die Lautstärke einfach lauter oder leiser stellen. Damit nicht genug, bekommt man über diesen Weg die Tür zur Vielfalt der Klangbearbeitung geöffnet. Doch Mantheys Experiment hat sich in der Breite nicht durchgesetzt. Aktuell hat David Klavins diese Idee wieder in seinem Una-Corda-Piano aufgegriffen. Im Gegensatz zu Manthey bietet Klavins diese Variante aber nicht als ausschließliches Modell ohne Wahl, sondern als zusätzliche Option an. Das heißt, er hat ein Akustikpiano mit verschiedenen Erweiterungsmöglichkeiten im Angebot. Eine Möglichkeit, die den Spielraum der Klanggestaltung über das bislang übliche Maß hinaus erweitern, sind Tonabnehmer unter den Saiten. Will man trotz Resonanzboden die Lautstärke unter das Normalmaß senken, so braucht man zusätzlich zu der reduzierten Anzahl der Saiten pro Ton eine andere, neue Form eines Moderators, der die Schwingungen der Saiten dämpft, ohne den Anschlag, also den Weg des Hammers zum Ziel, negativ zu beeinflussen. Eine andere Erweiterung ist die Midifizierung der Klaviatur, wodurch man die Anschlagsdynamik in die digitale Welt bekommt, und sich auf diesem Weg auch synthetisch erzeugte Sounds spielen sowie gemeinsam mit dem Akustiksound in den Klangraum integrieren lassen, wodurch dann ganz neue und das Ohr begeisternde Hybridsounds entstehen. Das alles und noch mehr ist 2019 schon möglich, wie Sie auf meiner Homepage zum Hybrid-Piano lesen, sehen und hören können.

Das Silent-Piano ist die digitale Lösung des analogen Moderators. Das heißt, das Akustikpiano wird stumm geschaltet. Stattdessen kann man nun mit Kopfhörer Keyboard im Klavier spielen. Das ist nein das war das einzige Keyboard mit echtem Klavierspielgefühl, da man hier weiterhin eine echte Klaviermechanik am Ende der Tasten bewegt hat. Der Hammer schlug jedoch aufgrund einer Stopperleiste nicht mehr gegen die Saiten. Die Tonerzeugung erfolgte unter der Taste mittels Messung einer Lichtschranke, deren ermitteltes Maß als MIDI-Information an eine kleine Mini-PC-Einheit übermittelt worden ist, den Soundgenerator. Doch dieser Soundgenerator bietet bis heute beim Marktführer Yamaha lediglich General-MIDI-Qualität, der man den künstlichen Klang anhört. Die in Digitalpianos längst übliche Variante der Samples wird den Klavierspielern im Silent-Piano 2019 noch vorenthalten.

Zurück zu unserem Klavier der Marke Böhme & Sohn aus Gera, das in dem aktuellen Zustand nicht zu stimmen ist. Lohnt es sich in so ein Instrument zu investieren – und was kostet das Investment? In unserem Fall geht es um Piano von heute außergewöhnlicher 150 cm Höhe. Setzt man da oben drauf noch die Länge der Klaviatur, kommt man schnell zu einer Gesamtlänge von 2 m. Ab 2 m sagen Fachleute, bekommt der Flügel seinen richtig guten Klang! Das heißt, man hat hier ein Klavier an der Wand stehen, dass sich in der Klangqualität nicht vor einem 2 m Flügel zu verstecken braucht. Das Spielwerk des Klaviers funktioniert. Es braucht neue Saiten, neue Stimmnägel, möglicherweise weitere Reparaturen am Stimmstock, der Resonanzboden hat einige Risse. Die Kosten für dieses Auftragsspektrum muss man nun bei einigen Werkstätten abfragen, um einen Vergleich zu bekommen. Nun beginnt das nächste Problem, denn es gibt nur noch wenige Werkstätten. Und es gibt noch weniger kompetente Werkstätten, die auch das möglicherweise notwendige Spektrum wie das Auswechseln eines Stimmstocks aufgrund der entsprechenden Fräsmaschinen leisten können. Daher ist es inzwischen zum Standard geworden, Klaviere zur Überholung nach Polen zu bringen. Nein, das ist falsch formuliert. Die reparaturbedürftigen Pianos werden von den Polen abgeholt und komplett überarbeitet. Davon erfährt der Endkunde natürlich nichts, da er auch keine polnischen, sondern die guten deutschen Preise für seine Reparatur zahlen darf.

Hat man endlich die für einen idealen, da bezahlbaren Möglichkeiten gefunden, um das Klavier reparieren zu lassen, dann kann man daraus recht einfach ein absolutes Highlight machen, indem man es in ein Transparent-Piano umbaut. Das Plexiglas anstelle Holz bringt klanglich keine Nachteile, optisch aber begeisternde Einblicke in die eigentliche Innovation, das Herzstück, das Spielwerk des Pianofortes.

Kehrt man nun ganz zum Anfang zurück, so wäre noch die Frage zu klären, wie der aktuelle Besitzer zu dem Instrument gekommen ist? Das Klavier war auf dem Weg zum Sperrmüll. Davor wurde es (erst einmal) gerettet und stand nun 5 Jahre im Aufgang zum Haus. Anlässlich des Geburtstags des Klavierretters kamen Freunde auf die Idee, ihm einen Gutschein der Klavierstimmerei Praeludio über eine Klavierstimmung zu schenken.

Eine wichtige Anmerkung zum Schluss: Wie kam das Klavier in diesen Zustand? Das war die Leistung eines oder mehrerer Kollegen. Die Saiten reißen in der Regel beim Stimmen. Bei alten Klavieren zum Beispiel passiert das sehr häufig, wenn man versucht, das Klavier höher zu stimmen. Vor 1939 war der Kammerton noch nicht standardisiert. Es waren um 1900 circa 430 Hertz üblich. Erst 1939 erging die Empfehlung für den Kammerton a1 auf 440 Hertz. Die gerissenen Saiten hingen zum Großteil noch im Klavier. Ein Zeichen, dass jemand sein Wirken gar nicht zu vertuschen versucht hat!

Aber warum ist das Klavier so komplett verstimmt? Alte Klaviere blockieren den Markt. Für einen Klavierverkäufer gilt: Jedes alte Klavier ist eine Gelegenheit, ein neues zu verkaufen. Sollte das alte Piano noch nicht einem derart desolaten Zustand sein, so dass sich ein Neukauf förmlich aufdrängt, dann muss man eben nachhelfen. Das macht man, indem man ein Klavier entsprechend verstimmt. Das scheint unglaublich zu sein. Doch es ist Tatsache. Ähnliche Fälle habe ich in meinem Blog Serviceverweigerung bereits mehrfach dokumentiert. Daher achten Sie darauf, ob Sie einen eigenständigen Klavierservice beauftragen, dessen Kerngeschäft Ihre gute Stimmung ist, oder ob Ihnen von einem Klavierhandel ein Klavierstimmer geschickt wird. Der angestellte Klavierstimmer hat die Order, Aufträge zu generieren. Dementsprechend wird er Ihr Piano bewerten und versuchen, Sie von Zusatzaufträgen zu überzeugen, da hinter ihm der Verkauf sowie möglicherweise eine Werkstatt stehen, die von diesen Aufträgen abhängig sind. Der eigenständige Klavierservice wird Sie genauso beraten, im Zweifelsfall auf eine Werkstatt verweisen. Doch sein Urteil ist eben nicht durch Dritte beeinflusst. Der Klavierhandel ist häufig kein Klavierfachgeschäft mehr. Das Fachgeschäft zeichnet sich nämlich durch den Fachmann aus. Das wäre in unserem Fall der Klavierbauer. Sollte in dem Klavierhandel noch ein gelernter Klavierbauer tätig sein, so ist er das Aushängeschild. Aber sein Fach-Urteil muss deswegen für die Geschäftsleitung nicht relevant sein.

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    • Type: Live
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    • Key: Bm
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    • Untermerzbach, Deutschland
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